II. Workshop für Doktorandinnen und Doktoranden zur Geschichte Westfalens
Tagungsbericht von Alexandra Kohlhöfer
Am 16. und 17. März 2017 richtete die Historische Kommission für Westfalen zum zweiten Mal ihren "Workshop für Doktoranden zur Geschichte Westfalens" aus. Mit dieser Veranstaltung möchte die Kommission den Kontakt zu Nachwuchswissenschaftlern herstellen und auf ihre Arbeit aufmerksam machen. Doktoranden, die zur Geschichte Westfalens arbeiten, bekommen so die Möglichkeit, ihre Arbeiten mit einem Fachpublikum zu diskutieren. Da die Landesgeschichte derzeit an vielen Universitäten als eher randständiges Forschungsfeld betrieben wird, soll den Doktoranden damit zugleich die Möglichkeit zu einem überuniversitären Erfahrungsaustausch geboten werden. Insgesamt zwölf Referentinnen und Referenten stellten im Saal 1 der Bezirksregierung Münster ihre Dissertationsprojekte vor. Der Bogen der behandelten Themen reichte vom Mittelalter bis in die Zeitgeschichte der 1990er-Jahre.
Die erste Sektion „Westfalen in der Nachkriegszeit“ wurde von Prof. Dr. Franz-Werner Kersting (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster) moderiert. Kerstin Schulte (Bielefeld) konnte in ihrem Vortrag „Britische Internierungslager in Westfalen im Kontext der alliierten Besatzungspraxis. Eine multilaterale Beziehungsgeschichte“ nachweisen, dass die Inhaftierung ehemaliger Nationalsozialisten in den Internierungslagern kein Hemmnis für deren spätere Eingliederung in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft darstellte. Vielmehr schuf sie einen Erfahrungs- und Gemeinschaftsraum, der das Selbstverständnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft entscheidend prägen sollte. Schulte illustrierte ihre These am Beispiel des Internierungslagers Staumühle, dem größten Lager dieser Art in der britischen Besatzungszone. Im Lager entstanden – so Schulte – die Narrative des Redens und des Beschweigens der NS-Vergangenheit, die in der jungen Bundesrepublik zum Konsens der Täter werden sollten.
Im zweiten Vortrag der Sektion wandte sich Ulf Teichmann (Bochum) der linken Bewegung der 1960er-Jahre im Ruhrgebiet zu. Als konkretes Beispiel beschrieb er die studentischen Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen. Daran konnte Teichmann die Gegensätze und Heterogenität innerhalb der Linken herausarbeiten. Insbesondere standen sich die Gewerkschaften auf der einen und die Studentenbewegung von 1968/69 auf der anderen Seite gegenüber. Beide Gruppen verfolgten ähnliche Ziele, wählten aber unterschiedliche Strategien und Kommunikationsformen, um diese zu erreichen. Während sich die Studentenbewegung grundsätzlich mehr Dialog und Partizipation wünschte, war sie doch andererseits weniger verhandlungsbereit als die Gewerkschaften, die an hierarchisierte Verhandlungen gewöhnt waren. Generell seien die Gewerkschaften und ihre Rolle in der linken Bewegung bislang nur wenig beachtet worden. Mit dem Untersuchungsraum Ruhrgebiet rücke zusätzlich der Verlauf der linken Bewegung in der Peripherie in das Blickfeld der Forschung.
In der folgenden Sektion ging es um „Herrschaft im Mittelalter“, die Moderation übernahm Prof. Dr. Werner Freitag (Westfälische Wilhelms-Universität Münster). Den ersten Vortrag präsentierte Frederieke M. Schnack (Kiel). Im Zentrum ihrer Forschungen stehen die Bischöfe in Minden und die Handlungsspielräume geistlicher Herrschaft zwischen 1253 und 1508. Die Abgrenzung ihres Zeitraums begründete Schnack mit der Orientierung an einzelnen Episkopaten – 1253 begann das Episkopat von Wedekind I. von Minden, aus dem gleichen Jahr stammt der erste schriftliche Beleg für die Erhebung der Mindener Bischöfe zu Reichsfürsten; 1508 endete das letzte Episkopat vor der Reformation. Während die Handlungsspielräume weltlicher Herrschaft schon lange ein Gegenstand der Forschung sind, wurden geistliche Herrschaften bislang kaum daraufhin untersucht. Um dieses Desiderat zu füllen, stellt Schnack verschiedene Koordinaten vor, anhand derer sie die Handlungsspielräume der Mindener Bischöfe sichtbar machen möchte. Von besonderem Interesse sind dabei der Eintritt in das Bischofsamt, das geistliche Wirken, die Zugehörigkeit zu einer Dynastie, die verfassungsrechtliche Stellung bischöflicher Herrschaft, ferner Wirtschaft und Finanzen.
Zum stark zersplitterten weltlichen Herrschaftsbereich der Kölner Erzbischöfe gehörte seit 1180 auch das Herzogtum Westfalen. Florian Sommer (Bonn) untersucht in seiner Dissertation die Strategien der Kölner Erzbischöfe, ihre Herrschaft in Westfalen zu festigen und sich an der Wirtschaft der westfälischen Städte zu beteiligen. Sein Untersuchungszeitraum reicht von 1180 bis zum Jahr 1368. Sommer möchte keine durchgehende Darstellung zur Geschichte der Kölner Erzbischöfe in Westfalen liefern, vielmehr will er anhand einiger exemplarischer Beispiele die Westfalenpolitik ausgewählter Erzbischöfe analysieren. Für das reichlich vorhandene Quellenmaterial dienen Sommer die erzbischöflichen Regesten als Wegweiser, da in ihnen alle rechtlichen Handlungen der Erzbischöfe katalogisiert wurden. Ausführlichere Informationen müssen gezielt aus Urkundenbüchern, Rechtstexten und erzählenden Quellen ergänzt werden.
Die dritte Sektion widmete sich „Vor- und frühmodernen Lebenswelten“ und wurde von Dr. Andreas Neuwöhner (Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalen, Abt. Paderborn) moderiert. David Gniffke (Münster) eröffnete die Sektion mit einem Vortrag über die spätmittelalterliche Schriftlichkeit am Beispiel der Überlieferung des Klosters Frenswegen. Hierbei untersucht er nicht in erster Linie den Inhalt der Schriftstücke, sondern ihre technisch-soziologische Bedeutung. Ausgehend von der Netzwerktheorie möchte Gniffke die Rolle der Schriftstücke als „Akteure“ untersuchen. Zentrale Fragen sind dabei, inwieweit Schrift als Kulturtechnik das alltägliche Zusammenleben der Menschen beeinflusst und ob Schriftlichkeit einen Unterschied in sozialen Handlungen bewirkt. Als Beispiel stellte Gniffke die Heberegister aus dem Fürstlichen Archiv Burgsteinfurt vor. Ihre besonders handliche Form und ihr spezieller, systematischer Aufbau hätten die Verwaltung nicht nur unterstützt, sondern auch beeinflusst.
Den letzten Vortrag des Tages hielt Sarah Masiak (Paderborn), die sich in ihrer Dissertation mit der Hexenverfolgung im westfälischen Fürstenberg zwischen 1601 und 1702 beschäftigt. Masiak kann dort mehrere Familien nachweisen, die über ein ganzes Jahrhundert hinweg immer wieder mit Hexerei in Verbindung gebracht wurden. Als methodischen Ansatz wählte sie den „labeling approach“ und beschäftigte sich besonders mit der Frage, wie Hexen und Zauberer in einem interaktionistischen Wechselspiel konstruiert werden, wie sich die Verdächtigen selbst mit solchen Verdachtsmomenten identifizierten, diese zum Teil sogar bewusst inszenierten. Diese Strategien möchte Masiak mit einem multiperspektivischen und interdisziplinären Ansatz offenlegen, der Aspekte der Gender-, Rechts- und Mentalitäts- sowie der Wirtschaftsgeschichte berücksichtigt. Als Quellen dienen ihr neben Prozessakten auch Testamente, Rechnungen, Karten, Korrespondenzen, ferner materielle Quellen wie die noch erhaltenen Häuser der „Hexenfamilien“ sowie mündliche Überlieferungen.
Am zweiten Tag des Workshops standen zwei Sektionen mit jeweils drei Vorträgen auf dem Programm. Sektion IV umfasste Beiträge zur „Wirtschaft in Westfalen“, die Moderation übernahm Prof. Dr. Wilfried Reininghaus (Vorsitzender der Historischen Kommission für Westfalen). Philipp Mosmann (Göttingen) beleuchtete in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Arbeit Modelle der Sharing-Economy am Beispiel von Gemeinschaftsanlagen in Westfalen zwischen 1950 und 1990. Fallbeispiele ließen sich besonders zu Angeboten für Hausfrauen im ländlichen Raum finden, insgesamt werden in Mosmanns Projekt sechs Gemeinschaftsanlagen untersucht. Neben der Auswertung archivalischer Quellen nutzt er auch Interviews mit Zeitzeugen. Am Beispiel einer Gemeinschaftsanlage der Firma Miele verdeutlichte Mosmann die Zielsetzung der Firma und den Wandel der Organisation bei einzelnen Akteuren. Zu Beginn wurde die Benutzung der Waschmaschinen gemäß des top-down-Prinzips durch Mitarbeiter der Firma erklärt. Als der Gebrauch selbstverständlicher wurde, begannen die Nutzer den Gebrauch selbständig zu organisieren. Zum Niedergang der Anlagen führte schließlich die – von Anfang an angestrebte – zunehmende Verbreitung der Geräte in Privathaushalten, wodurch die Gemeinschaftsanlagen auf ihre soziale Funktion reduziert wurden.
In einem transatlantischen Vergleich stellte Justus Hillebrand (Maine, USA) die ländlichen Regionen Sauerland und Maine gegenüber. Er geht dabei der Frage nach, wie sich das landwirtschaftliche Wissen zwischen 1850 und 1914 entwickelte. Sowohl Agrarwissenschaftler als auch Landwirte produzierten und verbreiteten Fachwissen über Landwirtschaft. Hillebrand möchte diese beiden Gruppen ausdrücklich nicht voneinander abgrenzen, ihre Erkenntnisse nicht unterschiedlich bewerten. Das Wissen sei gleichwertig, lediglich die Netzwerke der Wissensproduktion unterschieden sich essentiell. Im Kern versucht das Projekt zu klären, wie Kommunikation und Austausch sowohl innerhalb als auch zwischen den beiden Netzwerken funktionierte. Da Landwirte ihr Wissen meist mündlich weitergaben, sind ihre Innovationen schwerer nachzuweisen. Hillebrand plant, ihr Wissen auch anhand von Katastern und Statistiken sichtbar zu machen.
Den abschließenden Vortrag der Sektion präsentierte Friederike Scholten (Münster). Unter dem Titel „Marktkontakte adeliger Güter in Rheinland, Westfalen und Lippe, 1650–1850“ hat sie am Beispiel der Getreidewirtschaft auf adeligen Gutswirtschaften untersucht, wie die Lagerung und der Verkauf von Getreide geplant, welche Strategien zur Bewältigung von Unsicherheiten entwickelt wurden. Als Fallbeispiele stellte Scholten zwei bislang nicht untersuchte rheinische Güter vor, Schloss Dyck und Schloss Heltorf. Die Akteure hatten für die Vermarktung von Getreide eine eigene Art von Heuristik entwickelt: In den Quellen kann nachgewiesen werden, dass sie sich, soweit möglich, an den vergangenen Preisen orientierten, um ihre Verkäufe möglichst gewinnbringend zu tätigen.
Im Mittelpunkt der fünften und letzten Sektion des Workshops stand der „Westfälische Adel“, die von Dr. Marcus Weidner (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte) geleitet wurde. Lennart Pieper (Münster) berichtete von seiner Untersuchung zum dynastischen Handeln der Grafen zur Lippe. Zur Sicherung der Dynastie waren Heiratsstrategien und die Regelungen zur Herrschaftsweitergabe essentiell. Die Heiratspolitik der Grafen in Lippe war besonders restriktiv, da nur der älteste Sohn heiraten durfte. Dennoch kann die Heiratspolitik der Grafen zur Lippe als erfolgreich bewertet werden. Die Weitergabe der Herrschaft bot ein wesentlich größeres Konfliktpotential. Als Ursache der zahlreichen Konflikte sieht Pieper die Änderung der Neuordnung des Erbrechts. Vom Spätmittelalter bis zum 17. Jahrhundert habe eine fortschreitende Hierarchisierung innerhalb der Dynastie stattgefunden, die zu den Konflikten führte. Als Beispiel führte Pieper das Jahr 1636 an, als die Herrschaftsrechte durch eine Verfügung des verstorbenen Grafen auf die Witwe übertragen wurden, was seine Brüder sogleich anfochten.
Am Beispiel der Reichsgrafen von Plettenberg-Wittem erläuterte Sven Solterbeck (Münster) die Konkurrenz bestehender Normen, wenn Adelige von einem Konkursverfahren betroffen waren. Für das Erbrecht und die Zahlungsform gab es zahlreiche, sich teilweise widersprechende Normen, so dass Verstöße nicht immer zu vermeiden waren. Solche normativen Widersprüche waren beispielhaft für die frühneuzeitliche Gesellschaft. Als Folge dieser Ambiguitätstoleranz wurden verschiedene Strategien gewählt, um die unterschiedlichen Normen für sich nutzbar zu machen. So schaffte es etwa die Familie von Plettenberg-Wittem, eine Geldforderung durch geschicktes Taktieren um zehn Jahre zu verschleppen. Durch das Aushandeln eines gütigen Vergleichs gelang es Franz Anton von Plettenberg-Wittem, den Grundstein für die Sicherung des Familienbesitzes zu legen.
Im letzten Vortrag widmete sich Andreas Oberdorf dem in der Forschung bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen Sohn der Fürstin Amalia von Gallitzin, Demetrius von Gallitzin (1770–1840). Demetrius wurde von seiner Mutter auf eine Bildungsreise nach Amerika geschickt. Er entschied sich dauerhaft dort zu bleiben, um Priester und Missionar zu werden. 1799 wurde er zum Priester geweiht und setzte sich besonders für die Verbesserung der Lebensbedingungen deutscher und irischer Einwanderer in Pennsylvania ein. Oberdorf möchte ausdrücklich keine reine Biografie schreiben, sondern den Bezug zu den Bildungsräumen herstellen, in denen sich Demetrius von Gallitzin bewegt hat und von denen er geprägt und beeinflusst worden ist.
In seinem Schlusswort hob Prof. Wilfried Reininghaus hervor, dass alle Beiträge vor dem Hintergrund einer immer höheren Spezialisierung des Faches begrüßenswert seien. Nicht nur die Themen, sondern auch die vorgestellten Quellen zeichneten sich durch eine hohe Bandbreite aus: Neben schriftlichen Quellen sei auch die Bedeutung von Oral History und materieller Kultur für die historische Forschung und somit auch für die Regionalgeschichte deutlich geworden. Insgesamt habe sich das Konzept des „Workshops für Doktoranden zur Geschichte Westfalens“ bewährt und soll fortgesetzt werden; der nächste Workshop dieser Art ist für das Jahr 2019 geplant. Auch in der Zwischenzeit soll das Doktorandennetzwerk auf der Homepage der Historischen Kommission gepflegt und soweit möglich erweitert werden. Zum Abschluss der Veranstaltung gab es noch die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Führung durch den St. Paulus-Dom zu Münster.
Programm des Workshops für Doktoranden